Laudatio

Laudatio und Überreichung des Vikar-Henn-Preis 2019
von Prof. Dr. Uwe Meiners

 

Prof. Dr. Uwe Meiners

Laudatio Pfarrer Peter Kossen
anlässlich der Verleihung des Vikar-Henn-Preises am 18. Februar 2019 im Dienstgebäude des Landkreises Cloppenburg

von Uwe Meiners

Wir sind hier heute zusammengekommen, um einen Menschen zu würdigen. Einen Menschen, dessen Name für Verantwortung, für Gerechtigkeit, für christliche Nächstenliebe steht. Für die Sorge um das, was sich punktuell in unserer heimischen Gesellschaft tut – oder auch nicht tut. Sein Name ist:
Peter Kossen, derzeit Pfarrer in Lengerich in Westfalen, bis 2017 Offizialatsrat im Bischöflichen Offizialat Vechta, ständiger Vertreter des Offizials für  den oldenburgischen Teil des Bistums Münster.
Peter Kossen ist ein Kind des Oldenburger Münsterlands. Er kommt aus der Region, er kennt die Region. Er weiß um die Menschen, die hier leben, wohnen und arbeiten. Und sorgt sich um die, die mehr am Rande der Gesellschaft stehen. Um Menschen, die hier arbeiten, weil es hier Arbeit gibt und Unternehmen sie brauchen. Viele dieser Menschen kommen aus Rumänien und Bulgarien, einige auch aus Polen, der Slowakei und den baltischen Ländern.
Arbeitsmigranten, also Menschen zweiter Klasse? Mitunter in den Augen derer, die an den Schalthebeln von problematischer Arbeitsvermittlung und bedenkenloser Gewinnmaximierung sitzen. Wohlstand für alle – ja schön, aber auf Kosten derjenigen, die ihre Arbeitskraft einbringen, schlecht dafür bezahlt und menschenunwürdig untergebracht werden? Ein Thema, so alt wie die Menschheit selbst, selbst biblisch mehrfach festgehalten. Manche sprechen von Ausbeutung, andere von moderner Sklaverei. Es gibt sie überall auf diesem Erdball.
Und wer hier von außen mit dem medial-moralischen Zeigefinger auf das Oldenburger Münsterland weist, sollte bedenken, dass drei der eigenen Finger auf ihn selbst deuten, dass die mitunter menschenunwürdig bis ausbeuterischen Begleiterscheinungen moderner Arbeitsmigration auch an anderen Orten dieser Welt vorkommen, in Südtirol zum Beispiel, dort aber weniger gravierend gedeutet werden, weil das Pflücken von Äpfeln in warmer Herbstsonne positiver wahrgenommen wird als das Zerlegen von getöteten Tieren in Schlachthäusern, deren Inneres die meisten von uns noch nicht einmal gesehen haben, geschweige denn in ihnen tätig gewesen sind.
Es ist gut und wichtig gewesen, dass Peter Kossen mit seinem mutigen Eintreten für Belange der Arbeitsmigranten und Vertragsarbeiter nicht ganz alleine steht. Zum einen sind es die Medien, die es dankenswerterweise für berichtenswert halten, dass ein Mensch der Region, ein Geistlicher aus unserem Umfeld, Missstände in dieser Region anprangert und damit an unser aller Gewissen appelliert. Der dem Wegschauen ein Veto entgegensetzt, dem „Weiter so“ Paroli bietet. Und dabei nicht nur Beifallsstürme erntet. „Ein Störenfried, ein Nestbeschmutzer“, sagen diejenigen, die sich gestört fühlen, in ihrem ausgeklügelten System der Gewinnabschöpfung, auf der Basis von Nahrungs- und Lebensmittelproduktion, gesetzlich vielleicht legal, moralisch und ethisch indes mehr als bedenklich.
In dieser Situation setzt zum anderen die Bürgerstiftung Cloppenburg ein Zeichen. In Kooperation mit der katholischen Kirchengemeinde St. Andreas lobt sie erstmals den mit 2.500,- € dotierten Vikar-Henn-Preis für Zivilcourage aus. Ausgezeichnet werden soll eine Person, Gruppe oder Institution, die sich im Alltag mutig gegen Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung, Unterdrückung oder für die Gerechtigkeit engagiert. Zugleich damit einen Beitrag gegen das Vergessen leistet und an das Unrecht erinnert, das Millionen Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus widerfahren ist.
Ernst Henn, der dem Preis seinen Namen gibt, ist eine solche Persönlichkeit gewesen. Er war zwischen 1932 und 1939 Kaplan in Cloppenburg – und jemand, der nicht wegschaute, was in der Zeit zwischen 1933 und 1945 rasch lebensgefährlichen Charakter annehmen konnte. Als Reaktion gegen die Novemberpogrome klagte er im Rahmen seiner Predigten in der Cloppenburger St.-Josefs-Kirche die „gemeinen“ und „niedrigen“ Verbrechend er Nationalsozialisten an. Danach galt er bei der NSDAP-Kreisleitung als „der Gefährlichste unter den Cloppenburger Geistlichen“, wurde verhört und ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet. Es folgte die Einberufung zur Wehrmacht, um ihm die Möglichkeit des Predigens zu entziehen. Als er am 11. April 1945 als Vikar in Löningen die weiße Fahne hisste, traf ihn ein Artilleriegeschoss. Er bezahlte sein Eintreten für Gerechtigkeit und Menschlichkeit mit dem Leben; posthum wurde  er  seitens der katholischen Kirche in  das Verzeichnis der Märtyrer des 20. Jahrhunderts aufgenommen.
Nun sollte diese Aufnahme nicht zum alleinigen Maßstab für die Verleihung des Vikar-Henn-Preises durch die Cloppenburger Bürgerstiftung werden. Wir brauchen Sie noch, Herr Kossen. Als Stimme unseres Gewissens, gleichsam als nicht militante, aber wirkungsmächtige „Speerspitze“ eines bürgerlichen Behauptungswillens, der dafür steht,  dass die Menschen im Oldenburger Münsterland (und auch anderswo) sich nicht allein als stromlinienförmige Kopfnicker begreifen, sondern ihrem Anspruch als ethisch-moralische und humanistisch-christliche Instanz gerecht werden.
Vor kurzem, meine Damen und Herren, durfte ich der Predigt eines  evangelischen Amtskollegen lauschen. Biblische Stütze seiner Ausführungen war die Geschichte vom brennenden Dornbusch, genau jenem Dornbusch, über den Gott zu Moses Kontakt aufnahm. Und Ihm damit Verantwortung übertrug. Für das Volk Israel, für seine Rückführung aus der ägyptischen Knechtschaft, zurück ins gelobte Land. Wahrlich keine leichte Aufgabe. Dem Auserwählten war klar, dass ihm diese Verantwortungsübernahme zugleich Verdruss, Kritik und Anfeindungen nicht zuletzt unter den eigenen Leuten einbringen würde.
Wer zur Verantwortung steht, dabei genauer hinschaut und Erschautes öffentlich macht, handelt sich in aller Regel Ärger mit dem Establishment ein – und mit denjenigen Akteuren, die es irgendeiner Form tragen oder stützen. Sich für Gerechtigkeit im Stile Peter Kossens einzusetzen, bedeutet nicht nur, den Schwachen und Bedürftigen zur Seite zu stehen, sondern auch, den vermeintlich Stärkeren und Mächtigen auf die Füße zu treten.
Verantwortung zu übernehmen, sie zu zeigen und ihr Gehör zu verschaffen, wirbelt Staub auf: den Staub des Vergessens und des Wegschauens, lässt die Modrigkeit von Lethargie und Trägheit spürbar werden. Gehört letztere nicht zu den sieben Todsünden der Menschheit? Eines wird man Ihnen, verehrter Herr Kossen, nicht nachsagen können, nämlich träge zu sein. Sie haben sich für den Beruf des katholischen Priesters entschieden – und mit dieser Wahl haben Sie sich zugleich für die Seelsorge der Menschen und damit gegen moralisch-ethische Trägheit ausgesprochen.
Geboren am 12. Dezember 1968 in Wildeshausen, zu Füßen der ehrwürdigen Alexanderkirche, wuchsen Sie in Visbek-Rechterfeld auf, machten Ihr Abitur und nahmen anschließend Ihr Studium der Theologie und Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster auf. Dort hätten wir uns vielleicht seinerzeit begegnen können; in Rom wäre es uns nicht vergönnt gewesen, wo Sie nämlich an der päpstlichen Universität Gregoriana Vorlesungen hörten und Seminare besuchten. Nach dem Gemeinde- und Diakonatsjahr in St. Johannes in Recklinghausen-Suderwick wurden Sie 1996 zum Priester geweiht, ihre erste Kaplanzeit verbrachten Sie in Nordwalde und Münster, u. a. in der Obhut ihres Pfarrers  Bernd Strickmann. Ab 2004 waren Sie Pfarrer in Emmerich am Niederrhein, überaus geschätzt und beachtet, und nur ungern ließ man Sie wieder nach Vechta ziehen, wo Sie als Ständiger Vertreter des Offizialats für  den niedersächsischen Teil des Bistums Münster, den Offizialatsbezirk Oldenburg, wirkten. Und dort, und zwar in Angelegenheiten des regionalen privatwirtschaftlichen wie arbeitsvertraglichen Umgangs mit südosteuropäischen Arbeitsmigranten, gleichsam wie der ungläubige Thomas den Finger in die Wunde legten, um damit sich selbst, vor allem aber den Zweiflern und Wegschauenden, die Augen zu öffnen. Im Sinne christlicher Verantwortung und Nächstenliebe.
Es ist beileibe kein Zufall gewesen, dass Sie zum Monsignore und zum Offizialatsrat benannt wurden. Dass Sie bereits seit 2000 Mitglied des Priesterrats sind, seit 2013 zum Vorsitzenden des Landes-Caritasverbandes ernannt wurden und zugleich Subsidiar in St. Gertrud in Lohne wurden. Dort hielten Sie am 11./12 August und 10./11. November 2012 bemerkenswerte, aufrüttelnde Predigten, von denen ich selbst bis dato eigenartigerweise keine Kenntnis hatte, bis mir meine Frau kürzlich, so nebenbei beim Lesen eines Kriminalromans von Wolfgang Schorlau mit dem Titel „Am zwölften Tag“, davon berichtete. Dem Sie freundlicherweise Ihre Predigttexte zur Verfügung stellten und so einen literarischen Multiplikator in der Sache gewannen.
Dass Sie zum Jahresbeginn 2017 als Pfarrer nach Lengerich wechselten, wird die Westfalen gefreut haben. Mich hat’s ein wenig traurig gemacht, weil damit unserer Region ihre kräftige Stimme des Gewissens ein bisschen abhanden gekommen ist, aber doch nicht ganz, wie sich anlässlich des kürzlich stattgefundenen Besuchs des Niedersächsischen Ministerpräsidenten Stefan Weil in einem südoldenburgischen Schlachtbetrieb zeigte. Sie waren dabei, und die Münsterländische Tageszeitung zitierte sie mit den Worten, dass zumindest hier ein lobenswerter Systemwechsel stattgefunden habe – ein Schritt in die bessere, in die richtige Richtung. Das lässt für die Zukunft hoffen.
Das Oldenburger Münsterland ist Ihre und unsere Heimat. Auch meine ist sie ein Stück weit geworden. Um wie viel mehr sollte sie für Menschen auch ein Ort des Sich-Wohlfühlens und Respektiert-Werdens sein, für Menschen, die um der Arbeit willen hierher kommen, aus Sorge um ihren Lebensunterhalt, den sie in ihrer angestammten Heimat nicht finden können.
Ähnlich wie seinerzeit unsere münsterländischen Hollandgänger, die (beginnend vor mehr als dreihundert Jahren) Jahr für Jahr in die reichen Niederlande zogen, um sich dort als Kanalarbeiter, Torfgräber und Grasmäher zu verdingen. Für geringe Lohnarbeit, in der Hoffnung auf Besserung ihrer Lebensumstände, wie einst die Bremer Stadtmusikanten, denen die Wanderschaft um Lohn und Brot – und nichts anderes ist der historische Hintergrund dieses Märchens –  allemal besser als der Tod erschien. Saisonale Migration, um eine Vergütung für schwere Lohnarbeit zur erhalten. Für oftmals krank machende Lohnarbeit, die den Hollandgängern schon etwas für die eigene Tasche übrig ließ, aber für Arbeit eben, welche die meisten niederländischen Zeitgenossen ablehnten oder ablehnen konnten, weil sie ihr Auskommen durch das Verrichten angenehmerer und weniger die eigene Gesundheit beeinträchtigende Arbeiten sicherstellen konnten.
Die Hollandgängerei der in den Niederlanden spöttisch als „Hannekemaiers“ bezeichneten Menschen aus dem Oldenburger Münsterland ist Geschichte, die Arbeitsmigration der Menschen aus Rumänien und Bulgarien Gegenwart. Die Fronten haben gewechselt, die soziale Problematik, der humanitäre Respekt und die Frage nach der Achtung vor der Würde des Menschen nicht. Zu uns kommen Menschen, die ihre Arbeit verrichten – und schon aus diesem Grunde Würde und Respekt verdienen. Wie es Peter Kossen für diese Menschen eingefordert hat, als Mensch, als Seelsorger, als Mann der Kirche. Vielleicht fällt diesen Männern und Frauen –  wieder einmal – besondere Verantwortung zu. In einer utilitaristisch geprägten Gesellschaft, in der leider die Ökonomie die Moral dominiert, brauchen wir den Rückhalt der Kirchen. Denn wer außer sie legitimiert uns zum mutigen Eintreten für Gerechtigkeit und Nächstenliebe. Sie sollten, ja müssen sich einmischen, gerade hier und heute, und nicht wegschauen oder den Kopf einziehen.
Wie es die meisten Menschen in der Zeit des schwärzesten Kapitels deutscher Geschichte getan haben. Indem sie sich kritiklos anpassten, mitschwammen im großen Strom der Jasager, in der politischen Meinung, aber viel schlimmer noch im Alltag, in der stillschweigenden Duldung von Diskriminierung und Entrechtung, bis hin zur Tolerierung von Beraubung und Ermordung von Mitmenschen, nur weil sie jüdischen Glaubens waren.
Alles Geschichte? Oder vielleicht doch alter Wein in neuen Schläuchen? Die Metapher verharmlost das überwunden Geglaubte. Xenophobie, die latente Angst der Menschen vor dem Fremden und Andersartigen, ist der offenbar nie versiegende Nährboden, der Steigbügelhalter für den zurückgekehrten Nationalismus und Rechtspopulismus. Die Zustimmung in manchen Teilen der Bevölkerung dafür wächst, schleichend bis dynamisch, und das nicht nur vor unserer Haustür, sondern überall in Europa und der Welt. Migranten und Geflüchtete werden bar jeder objektiven Grundlage zu den personifizierten Verursachern von Benachteiligung und Überfremdung ernannt, die angestammte Heimat dagegen als Zufluchtsort für das vermeintlich Eigene, Ursprüngliche, Natürliche auserkoren. Heimatministerium, Heimatschutz, Heimatfront – ein an sich harmloser Begriff wie Heimat wird von etlichen Bürgerinnen und Bürgern wieder einmal ideologisch instrumentalisiert, als abgeschirmter Raum der Selbstzufriedenheit und partikularistisch-nationalistischer Interessen. Dabei ist ein Heimatbegriff, in dem Neulinge, Hinzugezogene oder Migranten nicht unterzubringen sind, nicht nur hochgradig intolerant sondern auch historisch absurd – nichts anderes als ein Missverständnis der Geschichte!
Wir alle sollten den Mut haben, dem schleichenden Mainstream zu widersprechen, im Alltag, im Gespräch mit den Nachbarn, in  der eigenen Familie, überall und zu jeder Gelegenheit. Hinschauen – und nicht wegschauen. Peter Kossen hat nicht weggeschaut. Obwohl es für ihn persönlich sehr viel leichter gewesen wäre, und manche es sich wohl auch gewünscht hätten.
Gut gemacht, Herr Pfarrer Kossen, und mehr als ein aufrichtiges „Danke“ für Mut, Wachrütteln und Entschlossenheit, Monsignore. Zurecht sind Sie von der Jury mit dem Vikar-Henn-Preis ausgezeichnet worden, und ich gratuliere Ihnen dazu von ganzem Herzen!
Uwe Meiners